Brief an meinen Paps

Diese Zeilen sind für Dich. Weil ich weiß, dass Du Dich darüber gefreut hättest. Ich weiß auch, wie bescheiden Du warst und keine großen Emotionen wölltest. Weder zu Lebzeiten noch jetzt. Aber niemand hat damit gerechnet, dass Du eines Morgens einfach nicht mehr aufwachst. Dein Heilungsprozess schritt eigentlich ganz gut voran. Dachten wir alle. Du hattest eine kräftezehrende und schmerzhafte Zeit hinter Dir, aber das Schlimmste war überstanden. Dachten wir. Gekämpft hast Du zwar alleine, aber gelitten haben wir zusammen. Du hattest mal gute, mal schlechte Tage, warst aber trotzdem immer positiver Dinge. In der kommenden Woche sollte es schon auf Reha gehen. Du hattest Dich darauf gefreut. Doch dann, am Morgen nach unserer Rückkehr aus dem Urlaub, bist Du einfach nicht mehr aufgewacht…

Ein Schock überrollte mich. Die Welt stand still. Was passierte hier gerade? Warum wirst Du aus dem Krankenhaus entlassen, wenn Du wenige Tage später nicht mehr aufwachst? Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, aber Tausend Fragen bleiben unbeantwortet.

Während ich wenige Stunden nach dieser Nachricht schon dazu gedrängt wurde, jetzt gleich sofort alles mit dem Bestattungsinstitut zu klären, wuchs mir plötzlich die ganze Welt über den Kopf. Was ist hier los? Darf ich vielleicht erstmal weinen, bevor ich mich um Behördenkram kümmere? Keine Zeit für Trauer, hopp hopp, es gibt viel zu tun. Deutschland wartet nicht, Deutschland ist emotionslos! Wenn Du das sehen könntest, würdest Du die Hände über den Kopf zusammenschlagen und sagen “Mensch Mädel”.

Die kommenden Tage sind von Schwere geprägt. Der Gang in Dein Haus, Deine Unterlagen verwahre ich nun sicher bei mir zu Hause. Dein Handy klingelt. Ich habe Dein Konto gesperrt und Versicherungen abgemeldet. Es ist alles so endgültig. Keine Anrufe mehr von Dir. Beim Bestatter nahm ich die vorletzte Beruhigungstablette aus meiner Packung. Die Sterbeurkunde kommt ein paar Tage später per Post bei mir an.

Ich weiß, dass Du mir das alles ersparen wolltest. Du wolltest nie Umstände machen. Ich hoffe sehr, dass Du Deinen Frieden findest. Keine Schmerzen, keine Sorgen, keine Schulden und vor allem keinen Ärger mehr.

Deine Nachbarn und die ganze Gemeinde sind in Gedanken bei Dir. Der Bürgermeister, mit dem Du per Du warst, findet bestimmt keinen so geschätzten und pflichtbewussten Schulbusbegleiter mehr, wie Du es warst. Deine Nachbarn haben Deine Nachbarschaftshilfe sehr geschätzt. Hier die Hecke schneiden, dort ein Dach dämmen, da einen Baum stutzen. Du konntest das alles, warst immer der Muskelprotz in unserer großen Familie. Ein Bastler, der den Eiffelturm aus Streichhölzern nachgebaut und ihn mit Beleuchtung ausgestattet hat. Der eine funktionierende Modelleisenbahn im Keller stehen hatte und damit seinen Enkel begeistern konnte. Der letztes Jahr im Skatclub eine Clubmeisterschaft gewann und alle Wege mit dem Fahrrad oder zu Fuß erledigte, trotz verschiedener Krankheiten. Du hattest im wahrsten Sinne des Wortes sieben Leben und hast Dein Leben auf Deine Weise gelebt. Manchmal ohne Rücksicht auf Verluste, einfach so, wie es Dir in den Sinn kam. Im Nachhinein kann ich sagen, dass Du wenigstens nicht nur funktioniert, sondern auch gelebt hast. Wer kann das schon von sich behaupten.

Wir möchten Dir Deinen letzten Wunsch erfüllen, so dass Du in Deinem geliebten Wald Deine Ruhe findest. Das Leben geht weiter, die Erinnerungen bleiben. Und wenn ich an Dich denke, lächle ich und sage: “Weißt Du noch”?

Ich hab Dich lieb!
Deine Nicole